Problemaufriss
Der Ruf der deutschen Justiz ist hervorragend: Jurist:innen in Deutschland sind überdurchschnittlich gut ausgebildet. Die Gerichte gelten als unabhängig und zuverlässig. Die Bearbeitungszeit für Zivilverfahren ist im internationalen Vergleich kurz. Auch die Verfahrenskosten sind verglichen mit anderen Ländern moderat. Dennoch werden insbesondere große internationale Wirtschaftsstreitigkeiten ganz überwiegend nicht vor staatlichen Gerichten, sondern vor privaten Schiedsgerichten oder ausländischen Handelsgerichten verhandelt. Treiber ist hier insbesondere die Vertraulichkeit eines privaten Schiedsgerichts. Zudem dominiert im internationalen Wirtschaftsverkehr bekanntlich die englische Sprache. Demgegenüber ist die Gerichtssprache hierzulande Deutsch. Ein nachvollziehbares Hemmnis für Vertragspartner im Ausland.
Die Bundesregierung hat die Stärken und Schwächen der staatlichen Gerichtsbarkeit erkannt und will nun ihre Attraktivität insbesondere für internationale Unternehmen mit der bundesweiten Einführung von „Commercial Courts“ erhöhen.
Vorgeschichte
Die Einführung der „Commercial Courts“ ist das Ergebnis verschiedener Vorstöße, die Justiz an die veränderten Bedürfnisse des Wirtschaftslebens anzupassen und für große Wirtschaftsakteure zu öffnen. Bereits im Jahr 2010 gab es eine Gesetzesinitiative der Länder mit dem Ziel, englischsprachige Kammern für internationale Handelssachen an staatlichen Gerichten einzuführen. Am Landgericht Bonn konnten 2010 im Rahmen eines Modellversuchs Zivilverfahren auf Antrag der Parteien in Englisch geführt werden. In Baden-Württemberg wurden im November 2020 „Commercial Courts“ an den Landgerichten Stuttgart und Mannheim auf Initiative der BMJV/DIS-Konferenz (gemeinsame Konferenz des Bundesministeriums der Justiz und der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit) vom 05.06.2019 „Commercial Courts“ errichtet. Damit nur große Wirtschaftsstreitverfahren dort verhandelt werden, wurde die Streitwertgrenze auf 2 Mio. Euro festgelegt. Die Bilanz des Feldversuchs war durchweg positiv. Der „Commercial Court“ am Landgericht Stuttgart hat in den vergangenen knapp vier Jahren rund 400 Rechtsstreitigkeiten verhandelt. Die Verfahrensdauer betrug durchschnittlich 6,5 Monate bei einer Rechtsmittelquote von unter 10 Prozent. Rund 70 Prozent der Fälle wurden bereits im ersten Termin erledigt. In über 50 Prozent der Fälle schlossen die Parteien einen Vergleich.
Einrichtung von „Commercial Courts“
Mit der Einführung des § 119b des Entwurfs des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG-E) soll eine Rechtsgrundlage für die Länder geschaffen werden, damit sie „Commercial Courts“ bei ausgewählten Oberlandesgerichten und „Commercial Chambers“ bei Landgerichten einrichten können. Die „Commercial Chambers“ sind die erste Instanz, gegen deren Entscheidung eine Berufung zum „Commercial Court“ statthaft sein soll, § 184a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GVG-E i. V. m. § 119b Abs. 3 GVG-E. Gegen Urteile des „Commercial Court“ soll nach den Regelungen der Zivilprozessordnung (ZPO) die Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) statthaft sein, § 623 Satz 1 ZPO-E.
Die „Commercial Chambers“ und „Commercial Courts“ sollen Spezialsenate am jeweiligen Gericht für große zivilrechtliche Wirtschaftsstreitigkeiten ab einem Streitwert von 1 Mio. Euro sein. Verhandeln sollen hier spezialisierte Richter:innen mit sehr guten Sprachkenntnissen, ausgestattet mit moderner Technik im Gerichtssaal. Um dies in Anspruch zu nehmen, müssen sich die Parteien zuvor in einer Gerichtsstandsvereinbarung auf die Anrufung eines „Commercial Court“ und auf die Verfahrenssprache Englisch verständigt haben. Zur Vermeidung komplexer und im Zweifel unwirksamer Gerichtsstandsvereinbarungen kann der Kläger auch ohne vorherige Vereinbarung vor dem Landgericht klagen und eine Verweisung an den „Commercial Court“ beantragen, § 620 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO-E. Ebenso kann die beklagte Partei im Rahmen der Klageerwiderung die Verweisung beantragen, § 620 Abs. 1 Satz 2 ZPO-E.
In einem Verfahren vor einem „Commercial Court“ sollen die Prozessparteien zur Förderung der Prozessökonomie verpflichtet werden. So früh wie möglich müssen sie an einem Organisationstermin teilnehmen, § 621 Satz 1 ZPO-E. Frühestmöglich soll so der Sach- und Streitstoff systematisiert, abgeschichtet und Vereinbarungen zum Ablauf des Verfahrens getroffen werden. Auf übereinstimmenden Antrag der Parteien kann ein mitlesbares Wortprotokoll während der Verhandlung oder jedenfalls während der Beweisaufnahme geführt werden, § 622 ZPO-E.
Schutz von Geschäftsgeheimnissen
Nach den §§ 172 Nr. 2, 173 Abs. 2 GVG besteht bereits heute bei Vorliegen wichtiger Geschäfts-, Betriebs- Erfindungs- oder Steuergeheimnisse die Möglichkeit, die Öffentlichkeit in einem Zivilprozess auszuschließen, wenn durch die öffentliche Erörterung überwiegende schutzwürdige Interessen verletzt würden. Wie der Gesetzesbegründung entnommen werden kann, reicht diese Möglichkeit nach Ansicht der Bundesregierung nicht aus: Dieser Schutz gilt erst ab dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Daher würden Kläger in der Klageschrift auf die Beibringung sensibler Geschäftsgeheimnisse in den Streitstoff – auch zum eigenen Nachteil – verzichten. Der Gesetzentwurf sieht in § 273a ZPO-E vor, auf Antrag einer Partei die Regelungen des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen auszuweiten, und zwar nicht nur für die Verfahren vor den „Commercial Courts“. Auf Antrag einer Partei kann das erkennende Gericht die streitgegenständlichen Informationen ganz oder teilweise als geheimhaltungsbedürftig einstufen.
Zusätzlich soll zum Schutz der Geschäftsgeheimnisse der Verfahrensgegner zur Vertraulichkeit verpflichtet werden können. Damit soll auch die interne Nutzung der erlangten Kenntnisse durch die gegnerische Partei verhindert werden. Kommt es zu einer gerichtlichen Entscheidung, soll die Veröffentlichung dergestalt auszugsweise erfolgen, dass keine Rückschlüsse auf schutzwürdige Einzelheiten des Verfahrens möglich sind, § 617 Abs. 3 Satz 2 ZPO-E.
Defizite im Gesetzesvorhaben
Entscheidungen der „Commercial Courts“ können in Deutschland und in allen Staaten, die dem Haager Urteilsübereinkommen beigetreten sind, vollstreckt werden. Dies sind nahezu alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ein wesentlicher Nachteil ist gegenwärtig noch, dass Entscheidungen deutscher „Commercial Courts“ nicht auch außerhalb der EU, vor allem in China oder in den USA, vollstreckt werden können.
Weiterhin bleibt es den Ländern überlassen, die Zuständigkeit der „Commercial Courts“ auf bestimmte Sachgebiete zu beschränken, § 119b Abs. 1 Satz 2 und 3 ZPO-E. Es droht folglich ein Flickenteppich einzelner „Commercial Courts“ mit unterschiedlichen Zuständigkeiten je nach Bundesland, sofern das Land überhaupt von der Ermächtigung Gebrauch macht, „Commercial Courts“ einzurichten. Es obliegt also den Wirtschaftsakteuren, erst einmal zu prüfen, ob an ihrem Standort ein geeignetes Gericht mit passender Zuständigkeit existiert. Eine pauschale Gerichtsstandsvereinbarung ist nicht möglich.
Von vornherein von der Zuständigkeit der „Commercial Courts“ ausgenommen sind zivilrechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes, des Urheberrechts und Ansprüche nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, § 119b Abs. 1 Nr. 1 GVG-E sowie Streitigkeiten aus oder im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Unternehmens bzw. von Unternehmensanteilen, § 119b Abs. 1 Nr. 2 ZPO-E.