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EuGH: SE-Beteiligungsverfahren muss grundsätzlich nicht nachgeholt werden

Wird eine arbeitnehmerlos gegründete Societas Europaea (kurz SE) im Nachgang herrschendes Unternehmen einer Unternehmensgruppe mit zahlreichen Arbeitnehmern, muss das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren grundsätzlich nicht nachgeholt werden (EuGH, 16.05.2024 – Az.: C-706/22).

Überblick

  • Bei Nutzung sog. Vorrats-SE stellt sich in der mitbestimmungsrechtlichen Gestaltungspraxis oftmals die Frage, ob ein bisher nicht durchzuführendes Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren gegebenenfalls nachzuholen ist.
  • In diesem Zusammenhang hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 16.05.2024 ein wichtiges Urteil gefällt. Konkret ging es um die Frage, ob das Verhandlungsverfahren über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE (kurz: Beteiligungsverfahren) nachzuholen ist, sofern eine „arbeitnehmerlos“ und daher rechtmäßig ohne vorherige Durchführung des Beteiligungsverfahrens gegründete SE im Nachgang herrschendes Unternehmen einer Unternehmensgruppe mit Arbeitnehmern in mehreren Mitgliedstaaten wird.
  • Diese Frage hat der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Bundesarbeitsgerichts (BAG) nunmehr eindeutig beantwortet. Die unionsrechtlichen Regelungen sind dahin gehend auszulegen, dass grundsätzlich keine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens besteht. Das Beteiligungsverfahren ist sowohl nach den europäischen (SE-VO/SE-RL) als auch nach den nationalen Vorschriften (SEBG) auf den eigentlichen Gründungsvorgang zugeschnitten.
  • Damit besteht auch künftig im Zusammenhang mit der SE ein Potenzial zur Gestaltung von Mitbestimmungskonzepten durch arbeitnehmerlose Gesellschaften, soweit kein Verfahrensmissbrauch darin erkannt wird.

Was ist der rechtliche Hintergrund der Entscheidung?

Jede SE-Gründung setzt grundsätzlich einen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraus. Ein Weg zur Gründung einer SE ist die Verschmelzung zweier Rechtsträger, die dem Recht unterschiedlicher Mitgliedsstaaten der EU unterliegen. Ein anderer Weg ist die Gründung einer sog. Holding SE nach Art. 8 (2) der Verordnung Nr. 2157/2001 (SE-VO) durch zwei Kapitalgesellschaften, die dem Recht unterschiedlicher Mitgliedsstaaten unterliegen.

Bei der Gründung einer SE ist mit einem von der Arbeitnehmerseite gebildeten besonderen Verhandlungsgremium (kurz: BVG) über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE zu verhandeln. Gegenstand der Verhandlungen mit dem BVG sind sowohl die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer im Aufsichtsorgan der SE als auch die Unterrichtungs- und Anhörungsrechte eines gegebenenfalls zu bildenden SE-Betriebsrats. Die Modalitäten des Beteiligungsverfahrens sind durch europäisches Recht geprägt. In Deutschland sind die Vorgaben durch das SEBG umgesetzt.

Es ist klar geregelt, dass eine SE erst nach Abschluss des Beteiligungsverfahrens im Handelsregister eingetragen werden kann. Nicht geregelt, aber weitestgehend unbestritten ist, dass das Beteiligungsverfahren nicht durchgeführt werden kann bzw. muss, wenn die Gründungsgesellschaften der SE sowie deren Tochtergesellschaften keine Arbeitnehmer beschäftigen.

Offen war jedoch, ob und unter welchen Umständen ein Beteiligungsverfahren gegebenenfalls nachzuholen ist, wenn erstmals eine ausreichende Anzahl von Arbeitnehmern zur Bildung eines BVG zur Verfügung steht – sei es beispielsweise dadurch, dass die SE im Nachgang einen Geschäftsbetrieb aufnimmt und selbst eine ausreichende Anzahl an Arbeitnehmern anstellt, ein Unternehmen mit Arbeitnehmern auf die arbeitnehmerlose SE verschmolzen wird oder die SE die gesellschaftsrechtliche Herrschaft über eine Tochtergesellschaft übernimmt, die ihrerseits Arbeitnehmer beschäftigt. Diese Frage hat der EuGH nun zumindest teilweise beantwortet.

Welcher Fall lag der Entscheidung des EuGH zugrunde?

Die streitgegenständliche SE wurde im März 2013 als englische Holding-SE durch eine englische Ltd. und eine deutsche GmbH nach Art. 2 Abs. 2 SE-VO gegründet. Da keine der an der Gründung beteiligten Gesellschaften Arbeitnehmer beschäftigte und auch keine Arbeitnehmer in EU-Tochtergesellschaften zur Durchführung des Beteiligungsverfahrens zur Verfügung standen, wurde die SE in das Register für England und Wales eingetragen, ohne dass ein Beteiligungsverfahren durchgeführt wurde.

Bereits am Tag nach der Eintragung der SE wurde sie alleinige Gesellschafterin einer deutschen GmbH, die im Nachgang ihre Form zu einer KG wechselte. Die SE fungierte fortan als alleinige Kommanditistin der KG und hielt zudem sämtliche Anteile an der Komplementärin der KG. Die KG beschäftigte zu diesem Zeitpunkt etwa 816 Arbeitnehmer und hatte außerdem mehrere EU-Tochtergesellschaften, die insgesamt mehr als 2.000 Arbeitnehmer beschäftigten.

Im Zuge des sog. Brexits wurde der Sitz der SE schließlich grenzüberschreitend nach Deutschland verlegt. Kurze Zeit später beantragte der Konzernbetriebsrat im Rahmen eines Beschlussverfahrens vor dem Arbeitsgericht Hamburg, den Vorstand der SE zu verpflichten, ein Beteiligungsverfahren einzuleiten bzw. nachzuholen. Dieser Antrag wurde sowohl in erster als auch in zweiter Instanz abgewiesen.

Das vom Konzernbetriebsrat angerufene BAG war der Ansicht, dass die Entscheidung über diesen Fall von der Rechtsfrage abhänge, ob aus Art. 12 Abs. 2 SE-VO in Verbindung mit den Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86 (SE-RL) eine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens abzuleiten sei. Das BAG wies dabei insbesondere darauf hin, dass der enge zeitliche Zusammenhang zwischen Eintragung der SE und dem Erwerb von „Geschäft“ über die Akquisition von Tochtergesellschaften Anlass für eine Prüfung geben könne, ob eine missbräuchliche Verfahrensgestaltung (Art. 11 SE-RL i. V. m. § 43 SEBG) mit dem Zweck der Entziehung oder Vorenthaltung von Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer gegeben sei.

Vor diesem Hintergrund setzte das BAG das Verfahren aus und legte dem EuGH diese und weitere damit im Zusammenhang stehende Fragen im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vor (BAG, Beschluss vom 17.05.2022 – Az.: 1 ABR 37/20).

Wie entschied der EuGH?

Der EuGH hat eine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens für die vorliegende Fallkonstellation abgelehnt. Zur Begründung seiner Entscheidung stützte sich der EuGH im Wesentlichen auf den Wortlaut, die gesetzgeberischen Erwägungsgründe und die Entstehungsgeschichte der SE-VO und der SE-RL. Demnach seien die unionsrechtlichen Regelungen dahin gehend auszulegen, dass grundsätzlich keine Pflicht zur Nachholung des Beteiligungsverfahrens bestehe.

Dabei betonte der EuGH, dass es eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers – und damit kein gesetzgeberisches Versehen – gewesen sei, auf die Regelung einer entsprechenden Nachholungspflicht für die vorliegende Fallkonstellation zu verzichten. Im Ergebnis sei das Beteiligungsverfahren daher nur bei Gründung der SE durchzuführen – es bestehe grundsätzlich keine Nachholungspflicht.

Aus Art. 12 (2) SE-VO folge bereits, dass der Abschluss des Beteiligungsverfahrens vor Eintragung einer SE erfolgen müsse. Die SE-RL sehe demgegenüber nur wenige – klar geregelte – Fälle vor, in denen das Beteiligungsverfahren auch nach Gründung der SE eingeleitet oder wiederaufgenommen werden kann (bspw. bei Abbruch oder bewusster Nichtaufnahme der Verhandlungen durch das besondere Verhandlungsgremium). Sämtliche der geregelten Ausnahmefälle setzen aber voraus, dass ein besonderes Verhandlungsgremium bei der Gründung eingesetzt wurde. Gerade daran fehle es vorliegend aber, und dies aus anerkennenswerten Gründen. Auch liege in der Unmöglichkeit der nachträglichen Aufnahme von Verhandlungen in einem Fall der Gründung ohne Arbeitnehmer kein Versehen bei der Ausarbeitung der SE-RL; vielmehr wurde die hier maßgebliche Konstellation diskutiert und schließlich bewusst vom Unionsgesetzgeber nicht geregelt.

Abschließend deutete der EuGH an, dass sich in Missbrauchsfällen gegebenenfalls eine andere Bewertung ergeben könnte – ein solcher Missbrauchsfall sei vorliegend jedoch nicht gegeben, weil sich die Beteiligten nicht künstlich Voraussetzungen für die Erlangung von aus den Unionsregelungen resultierenden Vorteilen verschafften.

Praxishinweis

Die Entscheidung des EuGH ist für die mitbestimmungsrechtliche Gestaltungspraxis äußerst bedeutsam. Sie bewirkt eine deutlich gesteigerte Rechtssicherheit bei der gestalterischen Nutzung von arbeitnehmerlos gegründeten SE.

Die Entscheidung hat das Potenzial, wesentliche Fragen bei der Gestaltung von SE-Strukturen zu beeinflussen und, auch wenn die Entscheidung keinen Blankoscheck für Mitbestimmungsgestaltung bedeutet, die Rechtsform in der Attraktivität zu steigern.

Nicht geklärt ist jedoch, ob die Entscheidung des EuGH auch auf Fallgestaltungen übertragbar ist, in denen eine ohne Beteiligungsverfahren gegründete sog. Vorrats-SE beispielsweise im Rahmen eines umwandlungsrechtlichen Vorgangs unmittelbar mit einem eigenen Unternehmen ausgestattet wird und damit selbst wirtschaftlich tätig wird. Bisher hat die wohl überwiegende Meinung dies bejaht, da eine „wirtschaftliche Aktivierung“ vorliege. Dies kann jetzt mit guten Gründen anders gesehen werden. Folgt man der Argumentation des EuGH konsequent, wäre auch in diesen Fällen – jedenfalls bis zur Grenze des Verfahrensmissbrauchs – kein Beteiligungsverfahren nachzuholen.

Vor diesem Hintergrund ist – nach wie vor – Vorsicht geboten. Es ist davon auszugehen, dass sich die Gerichte in Zukunft verstärkt mit der Konturierung des Missbrauchstatbestands des § 43 SEBG befassen werden, um allzu aggressive Gestaltungen einzudämmen. Hier verbleiben daher nicht unerhebliche Rechtsunsicherheiten.

Kontaktpersonen: Dr. Torsten GöckeArne Dannemann