Justitia wird von der Seite angestrahlt

Stärkung der Amtsgerichte durch Anhebung des Zuständigkeitsstreitwerts und Spezialisierung

Das erste Mal seit über 30 Jahren soll die Streitwertgrenze in Zivilverfahren angehoben werden. Diese und weitere Änderungen in der Zivilprozessordnung (ZPO) sieht der nun vorliegende Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) vor.

Problemaufriss

    Laut den Ergebnissen einer Studie des BMJ aus dem Jahr 2023 wurden bei deutschen Amtsgerichten von 2005 bis 2019 36 Prozent weniger Verfahren verzeichnet als in den Jahren zuvor. Eine Befragung lieferte erste Begründungen für diesen Trend: Die befragten Personen gaben an, aus Sorge vor den entstehenden Kosten und der Dauer der Verfahren keine Klagen zu erheben. Laut der Studie raten wohl auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ihren Mandanten vermehrt dazu, aus wirtschaftlichen Gründen kein Klageverfahren anzustreben. Der Rückgang der Verfahrensanzahl überrascht, da gleichzeitig 74 Prozent der Bürgerinnen und Bürger die Justiz als überlastet wahrnehmen (vgl. „Rechtsreport 2021“ der Rechtsschutzversicherung Roland). Das BMJ sieht durch diese Entwicklung insbesondere die kleineren Standorte der Amtsgerichte bedroht. Durch den möglichen Wegfall von Amtsgerichten vornehmlich im ländlichen Raum könnten Aufgaben des Rechtsstaates teils schon heute nicht mehr bürgernah wahrgenommen werden.

      Neue Streitwertgrenze

        Das BMJ möchte mit dem Referentenentwurf deshalb die Streitwertgrenze in § 23 Nr. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) anheben, um die Verfahrensanzahl bei den Amtsgerichten zu erhöhen. Die Streitwertgrenze wurde zuletzt im Jahr 1993 angehoben, und zwar auf 10.000 DM, was nach der Währungsreform im Jahr 2002 5.000 Euro entsprach. Nun soll die Streitwertgrenze von 5.000 Euro auf 8.000 Euro angehoben werden. Grundsätzlich werden dann alle zivilrechtlichen Streitigkeiten, deren Streitwert 8.000 Euro oder weniger beträgt, an einem Amtsgericht verhandelt. Das BMJ begründet die Anhebung außerdem mit der Geldwertentwicklung seit 1993. Intention ist es, die Streitwertgrenzen aus dem Jahr 1993 wiederherzustellen. Bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs scheint das BMJ allerdings der Mut verlassen zu haben. Denn bereits heute lässt sich für 8.000 Euro weniger kaufen als für 10.000 DM im Jahr 1993. Die Zuständigkeitsstreitwerte werden also trotz der beabsichtigten Anhebung auch zukünftig der Geldwertentwicklung hinterherlaufen. Damit verschenkt der Referentenentwurf Potenzial bei der Anpassung der Streitwertgrenze und ist – gemessen an der eigenen Begründung – inkonsequent. Vorausschauend wäre es, den Zuständigkeitsstreitwert eines Amtsgerichts direkt auf 10.000 Euro anzuheben.

          Die geplante Anhebung wird für Parteien in zivilrechtlichen Streitigkeiten dennoch spürbar sein. Der Streit- bzw. Beschwerdegegenstand muss in der Klageschrift angegeben werden, §§ 253 Abs. 3 Nr. 2, 520 Abs. 4 Nr. 1 ZPO. Soweit nicht um eine bestimmte Geldsumme gestritten wird, ist es gelebte Praxis, sich im Vorfeld eines gerichtlichen Verfahrens auf einen Streitwert zu einigen, der die Zuständigkeit des (vermeintlich kompetenteren) Landgerichts begründet. Parteien, die sich dieser Praxis bedient haben und daran festhalten wollen, werden nach dem Referentenentwurf künftig höhere Prozesskosten haben – oder auf die Amtsgerichte vertrauen müssen.

            Spezialgerichte

              Als weiteren Grund für den Rückgang der Verfahrenszahlen benennt das BMJ die mangelnde Spezialisierung der Richterinnen und Richter. Daher möchte das Ministerium mit dem Referentenentwurf Spezialgerichte einführen. Vereinzelt gibt es bereits heute streitwertunabhängige Zuständigkeiten für Amts- und Landgerichte. So werden beispielsweise jegliche Ansprüche aus einem Mietverhältnis nur vor den Amtsgerichten verhandelt, § 23 Nr. 2a GVG. Außerdem gibt es eine Vielzahl von Schlichtungs- und Ombudsstellen (allerdings vorwiegend für Verbraucherinnen und Verbraucher) zur außergerichtlichen Streitbeilegung. Hier besteht ein Flickenteppich an Regelungen und Zuständigkeiten – je nach Rechtsgebiet und Bundesland.

                Nach dem Referentenentwurf sollen künftig Nachbarschaftsstreitigkeiten grundsätzlich vor Amtsgerichten verhandelt werden, und zwar unabhängig vom Streitwert. Streitigkeiten aus Heilbehandlungen, Vergabesachen und Veröffentlichungen (durch z.B. Druckerzeugnisse, Bild- und Tonträger jeder Art) sollen – unabhängig vom Streitwert – den Landgerichten zugewiesen werden.

                  Die streitwertunabhängige Zuweisung soll das Fachwissen der zuständigen Richterinnen und Richter zukünftig besser nutzbar machen. Dies mag die Rechtssicherheit und das Vertrauen in den Rechtsstaat fördern. Dennoch verpasst der Referentenentwurf u. E. auch die Chance, weitere Spezialzuweisungen zu schaffen, beispielsweise in regulatorisch oder technisch herausfordernden Bereichen.

                  Fazit

                  Der Referentenentwurf wird massiven Einfluss auf die Zuteilung zivilrechtlicher Streitigkeiten haben. Verfahren, die unter die neue Streitwertgrenze fallen, werden zukünftig an den Amtsgerichten verhandelt. Die Regelungen der ZPO zum Anwaltszwang vor den Landgerichten will der Entwurf nicht verändern. In Zukunft können sich Klägerinnen und Kläger also in mehr Verfahren selbst vertreten. Die Anhebung der Streitwertgrenze und die wenigen Spezialzuweisungen bleiben jedoch hinter dem eigenen Anspruch des BMJ zurück. 

                  Fraglich ist auch, ob der vorliegende Referentenentwurf dazu verhilft, die deutsche Justiz zu einer leistungsfähigeren und effizienteren Institution zu wandeln. Zweifel sind angebracht. Denn hierfür bedürfte es vor allem einer vernünftigen Personalausstattung und einer weitreichenden Digitalisierung der Verwaltung.

                  Kontaktpersonen: Alexander Schmiegel, LL.M., Nils Christian Scholl