Herausforderungen nach der Auflösung der Ampelkoalition
Die Auflösung der Ampelkoalition stellt Deutschland vor Herausforderungen.
Der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz hat am 11.12.2024 im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt. In der Abstimmung im Bundestag am 16.12.2024 hat er207 Stimmen und damit nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhalten.
Ein Blick in die Regelungen des Grundgesetzes zeigt, dass verfassungsrechtlich die Regierungsfähigkeit auch ohne eine entsprechende Koalition gewährleistet ist (zu den Details der rechtlichen Grundlagen siehe unten). Der Bundeskanzler bleibt auch nach Verlust der Regierungsmehrheit im Amt und der Bundestag arbeitet mit den bestehenden Abgeordneten weiter. Der Bundeskanzler hat zwar die Möglichkeit, eine sog. Minderheitsregierung zu bilden, was Olaf Scholz nach der Neuvergabe der Ministerposten auch getan hat, die amtierende rot-grüne Minderheitsregierung ist allerdings auf wechselnde Mehrheiten angewiesen, um ihre Vorhaben durchzusetzen.
Die Vertrauensfrage
Was sind die rechtlichen Möglichkeiten, wenn diese durch Unterstützung von „Nichtregierungsparteien“ erzielten Mehrheiten im Bundestag nicht absehbar sind? Eine Selbstauflösung des Bundestages ist nach dem Grundgesetz nicht möglich. In einer solchen Konstellation kann die Stellung der Vertrauensfrage im Bundestag das probate Mittel sein, entweder um zu evaluieren, ob die genannte Mehrheit für die Umsetzung der angestrebten Projekte doch besteht, oder um im Wissen um fehlende Mehrheiten zu Neuwahlen zu kommen.
Historisches zur Vertrauensfrage
Die Vertrauensfrage wurde seit Inkrafttreten des Grundgesetzes sechsmal gestellt: am 20.09.1972 durch Willy Brandt, am 03.02.1982 durch Helmut Schmidt, am 17.12.1982 durch Helmut Kohl, am 16.11.2001, am 01.07.2005 durch Gerhard Schröder und nun am 11.12.2024 durch Olaf Scholz.
Die Vertrauensfrage erfolgt in der Regel dann, wenn der Kanzler auf eine Mehrheit angewiesen ist oder eine Abstimmungsniederlage politisch unvermeidlich wäre. Sie kann auch mit einer Sachabstimmung verbunden werden. Beispielhaft hierfür ist die Verknüpfung der Vertrauensfrage von Gerhard Schröder 2001 mit einem Antrag der Bundesregierung auf Entsendung deutscher Streitkräfte für den von den USA angeführten Kampf gegen den internationalen Terrorismus im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“ in Afghanistan zu nennen. Das Drohpotenzial einer vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode dient in einem solchen Fall als Hebel zur Sicherung von Mehrheiten.
Verfassungsrechtliche Grundlagen
Die Artikel 67 und 68 Grundgesetz (GG) sind von grundlegender Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem Deutschlands. Gemäß Art. 67 GG ist die Bundesregierung auf das Vertrauen des Bundestages angewiesen. Eine Ablösung der Regierung ist nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum möglich, indem im Bundestag ein neuer Bundeskanzler mit absoluter Mehrheit gewählt wird.
Für den Fall, dass eine parlamentarische Mehrheit zwar das Vertrauen verweigert, aber keine neue Mehrheit bilden kann, greift Art. 68 GG mit dem Recht des Bundeskanzlers, einen Antrag an den Bundestag zu stellen, ihm das Vertrauen auszusprechen (Vertrauensfrage, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG). Dieses Antragsrecht ist exklusiv dem Bundeskanzler vorbehalten und kann nicht von einzelnen Bundesministern oder der gesamten Bundesregierung ausgeübt werden. Zwischen der Stellung des Antrags und der Abstimmung über die Vertrauensfrage muss eine Frist von mindestens 48 Stunden liegen (Art. 68 Abs. 2 GG).
Spricht die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages dem Bundeskanzler das Vertrauen nicht aus – so wie es vorliegend der Fall ist –, hat der Bundeskanzler drei rechtliche Handlungsmöglichkeiten: Er könnte erstens im Amt bleiben und als Minderheitskanzler weiterregieren. Zweitens könnte er die Regierung fortsetzen, indem er die Möglichkeiten des Art. 81 GG (Gesetzgebungsnotstand) nutzt. Im Rahmen des Gesetzgebungsnotstandes nach Art. 81 GG kann ein (einfaches) Bundesgesetz ausnahmsweise trotz Ablehnung durch den Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates dennoch zustande kommen. Schließlich könnte der Bundeskanzler nach verlorener Vertrauensfrage den Bundespräsidenten um Auflösung des Bundestages bitten, was zu Neuwahlen führt. Zum Rücktritt ist der Bundeskanzler jedoch nicht verpflichtet (vgl. BVerfG, Urteile vom 25.08.2005 – Az.: 2 BvE 4/05, 2 BvE 7/05).
Findet der Antrag des Bundeskanzlers an den Bundestag, ihm das Vertrauen auszusprechen, „nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages“, erlaubt Art. 68 GG dem Bundespräsidenten, auf Vorschlag des Bundeskanzlers die Auflösung des Bundestages innerhalb von 21 Tagen anzuordnen, solange der Bundestag keinen neuen Bundeskanzler gewählt hat (Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG). Neuwahlen müssen innerhalb von weiteren 60 Tagen stattfinden (Art. 39 Abs. 1 Satz 4 GG).
Der Bundeskanzler hat gemäß Art. 68 GG den Bundespräsidenten bereits gebeten, den Bundestag aufzulösen. Die Neuwahlen sind auf den 23.02.2025 terminiert.
Die Regelung des Art. 68 GG bezweckt die Stabilität des Regierungssystems und soll nur in politischen Krisensituationen angewendet werden. Eine solche Krise liegt vor, wenn die Regierung keine verlässliche parlamentarische Mehrheit mehr hat. Der Bundespräsident prüft die formellen Voraussetzungen und die politische Notwendigkeit der Auflösung, wobei er einen Ermessensspielraum hat. Die auf Auflösung gerichtete Vertrauensfrage ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zudem nur dann gerechtfertigt, wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist, mithin eine Lage politischer Instabilität gegeben ist (vgl. BVerfG, Urteile vom 25.08.2005, s. o.). Bei der Frage, ob eine solche Lage politischer Instabilität besteht, kommt dem Bundeskanzler jedoch eine Einschätzungsprärogative zu („Niemand weiß besser als der Kapitän, wann das Schiff sinkt“). Gemäß der Rechtsprechung des BVerfG ist die Einschätzung des Bundeskanzlers nur dann widerlegt, wenn eine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen ist. Art. 68 GG ermöglicht keine manipulative Herbeiführung von Neuwahlen, da dies verfassungsrechtlich unzulässig wäre und durch die Opposition angezeigt würde. Die Vertrauensfrage soll nicht nur die Regierung gegenüber dem Bundestag stärken, sondern dient auch der Sicherung einer funktionsfähigen parlamentarischen Mehrheit.
Der Bundeskanzler kann im Übrigen die Vertrauensfrage auch mit politischen Sachfragen verbinden, indem der Bundestag vor die Wahl gestellt wird, entweder eine Sachfrage oder ein Gesetz zu unterstützen oder dem Kanzler das Vertrauen zu entziehen. Den Fall der ausdrücklichen Verbindung mit Gesetzesvorlagen ist in Art. 81 Abs. 1 Satz 2 GG geregelt. Im Falle des zuvor genannten Beispiels von Gerhard Schröder aus dem Jahr 2001 ging die mit der Sachfrage verbundene Vertrauensfrage mit 336 Ja-Stimmen gegen 326 Nein-Stimmen zugunsten des damaligen Bundeskanzlers aus.
Auswirkungen der Bundestagsauflösung, insbesondere auf Gesetzesvorhaben
Der aufgelöste Bundestag (Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG), der Bundeskanzler und die Bundesminister (Art. 69 Abs. 2 und 3 GG) bleiben bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages, der spätestens am 30. Tag nach der Wahl erfolgt (Art. 39 Abs. 2 GG), mit allen Rechten und Pflichten im Amt. Auch die Gremien des Bundestages wie etwa Ausschüsse bestehen bis zum Ende der Wahlperiode fort. Es gibt keine parlamentslose Zeit. Der Bundestag ist folglich grundsätzlich noch beschlussfähig, solange mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend sind (§ 45 Abs. 1 GO-BT).
Die Auflösung des Bundestages hat aber grundsätzlich folgende Auswirkungen auf laufende Gesetzgebungsverfahren:
Nach dem Grundsatz der Diskontinuität (§ 125 GO-BT) verfallen alle Gesetze, die in der auslaufenden Legislaturperiode des Bundestages nicht in der zweiten und dritten Lesung beschlossen wurden. Das bedeutet im Gegenzug, dass alle Vorhaben, die sich noch in der „frühen Phase“ der ersten Lesung oder in der Phase der Beschlussempfehlung befinden, mit dem Ende der Legislaturperiode hinfällig werden und in der nächsten Legislaturperiode neu eingebracht werden müssen. Es heißt wörtlich: „Am Ende der Wahlperiode des Bundestages gelten alle Vorlagen als erledigt. Dies gilt nicht für Petitionen und für Vorlagen, die keiner Beschlußfassung bedürfen.“
Die Auflösung des Bundestages hat aber verfassungsrechtlich keine unmittelbare Auswirkung auf Verfahren im Bundesrat, nachdem der Bundestag ein Gesetz beschlossen hat. Der Bundesrat als „immerwährendes Verfassungsorgan“ ist nicht an Legislaturperioden gebunden. Das bedeutet, dass vom Bundestag beschlossene Gesetze auch nach der Auflösung des Bundestages vom Bundesrat beraten, d. h. die Gesetzgebungsverfahren fortgesetzt werden können.