Formen von Massenverfahren in der Arbeitsgerichtsbarkeit
In der Arbeitsgerichtsbarkeit gibt es verschiedene Varianten von Massenverfahren. Sie können sich sowohl gegen ein und denselben als auch gegen verschiedene Arbeitgeber richten. Die Verfahren haben gemein, dass sie eine Vielzahl von Fällen betreffen, bei denen der zugrunde liegende Sachverhalt und die zu klärenden Rechtsfragen im Wesentlichen die gleichen sind.
Klagen gegen ein und denselben Arbeitgeber betreffen häufig Massenentlassungen im Zusammenhang mit (Teil-)Stilllegungen von Betrieben. So wurden beispielsweise anlässlich der Insolvenz eines Flugunternehmens im Jahr 2017 über 1.000 Kündigungsschutzklagen allein beim Arbeitsgericht Berlin eingereicht.
Ein weiteres Beispiel sind die Klagen von Piloten, die sich gegen die Verpflichtung zur Rückzahlung von Schulungskosten gewandt haben (Hessisches LAG, Urteil vom 09.06.2022, 11 Sa 1558/21 – Juris). Hier kam es auf die Auslegung von unternehmensweit verwendeten AGB-Klauseln an.
Besondere Bedeutung haben zudem Massenverfahren im Bereich der betrieblichen Altersversorgung, insbesondere im Zusammenhang mit Betriebsrentenanpassungen. So gelangten in den Jahren 2011 bis 2013 fast 1.000 Nichtzulassungsbeschwerden wegen der von einem IT-Unternehmen verweigerten Anpassung von Betriebsrenten zum Bundesarbeitsgericht (BAG).
Massenklagen gegen verschiedene Arbeitgeber betreffen in der Regel die Auslegung und Wirksamkeit von Tarifnormen, wobei ein bestimmter Regelungsinhalt Gegenstand unterschiedlicher Tarifverträge sein kann. Beispielhaft genannt seien die Verfahren zur Höhe der Nachtarbeitszuschläge in der Getränke- und Süßwarenindustrie (BAG, Urteil vom 22.02.2023, 10 AZR 332/20).
Herausforderung für Anwaltschaft und Justiz
Massenverfahren sind mit den herkömmlichen Mitteln und innerhalb der üblichen Dauer der Verfahrensbearbeitung kaum in den Griff zu bekommen.
Gerichte sehen sich mit einer nur schwer zu bewältigenden Menge parallel laufender Verfahren konfrontiert. Dies führt dazu, dass immer weniger Zeit für andere Verfahren verbleibt und es dort zu nicht hinnehmbaren Verfahrensverzögerungen kommt.
Anwälte hingegen müssen eine Vielzahl von Schriftsätzen formulieren und Gerichtstermine wahrnehmen. Sie behelfen sich in der Regel durch den vermehrten Einsatz von Legal-Tech-Lösungen. Aufgrund der Repetition und Standardisierungsmöglichkeit eignen sich Massenverfahren hervorragend zur Automatisierung. So können beispielsweise Datenbanken erstellt und umfangreiche Schriftsätze nicht nur analysiert und abgeglichen, sondern weitestgehend auch automatisiert angefertigt werden. Hinzu kommen eine immer weitere Spezialisierung und die Möglichkeit einer auch kurzfristigen personellen Aufstockung z. B. durch IT-Experten oder Fachangestellte.
Können Kanzleien ohne Weiteres mehr Personal einstellen, um die Mehrbelastung abzufangen, fehlt es der Justiz in der Regel an den erforderlichen Mitteln wie auch an technologiebasierten Ansätzen für das Management von Massenverfahren.
Initiativen
Diese Herausforderungen sind nicht neu. So haben etwa im November 2021 die Justizministerinnen und Justizminister der Länder die Einrichtung einer Arbeitsgruppe unter der Federführung von Hamburg beschlossen. Diese Arbeitsgruppe sollte prüfen, wie arbeitsrechtliche Massenverfahren effizienter bearbeitet werden können. Die Arbeitsgemeinschaft Massenverfahren des Deutschen Richterbunds hat 2022 Vorschläge zur besseren Bewältigung von Massenverfahren durch die Justiz veröffentlicht. Bereits im Jahr 2020 hat die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ der deutschen Oberlandesgerichte untersucht, wie neue technische Möglichkeiten im Zivilprozess sinnvoll nutzbar gemacht werden können. Einige der Vorschläge sollen im Folgenden kurz umrissen werden:
- Zur besseren Strukturierung eines Verfahrens wird vorgeschlagen, dass die verfahrensbeteiligten Parteien ihren jeweiligen Vortrag in ein gemeinsames elektronisches Basisdokument einfügen, und zwar gegliedert nach bestimmten Sachverhaltsabschnitten oder anderweitigen Vorgaben. Wichtig ist hierbei, dass eine automatische Zuordnung zu den jeweils relevanten Stellen des gegnerischen Vortrags entsprechend einer Relationstabelle erfolgen kann. Eine derart strukturierte Erfassung soll helfen, den Sachverhalt übersichtlicher darzustellen und somit Fehler zu vermeiden.
- Insbesondere die Arbeitsgemeinschaft Massenverfahren des Deutschen Richterbunds spricht sich für die Einführung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Revisionsgericht aus und verspricht sich dadurch zügige Rechtssicherheit in grundsätzlichen streitentscheidenden Fragen im Rahmen eines Massenverfahrens. In Verbindung mit der Aussetzungsmöglichkeit gleich gelagerter Verfahren, für deren Entscheidung die im Vorabentscheidungsverfahren zu klärenden Rechtsfragen vorgreiflich sind, erhofft man sich dadurch eine erhebliche Ressourcenschonung bei den Instanzgerichten. Hierfür wäre nicht nur eine Änderung der ZPO, sondern beispielsweise auch des Arbeitsgerichtsgesetzes erforderlich, um klarzustellen, dass die vor allem in Kündigungsschutzverfahren bestehende Prozessförderungspflicht (§ 61a ArbGG) der Aussetzung dieser Verfahren nicht entgegensteht.
- Vorgeschlagen wird zudem die Einführung einer Richterassistenz, um die Richterinnen und Richter bei der Aufbereitung des Sachverhalts und rechtlichen Recherchen zu unterstützen. Seit 2020 ist bereits in einigen Bundesländern die Tätigkeit von Rechtsreferendaren als Justizassistenten möglich.
- Ressourcen werden in erheblichem Maße dadurch gebunden, dass alle individuell betroffenen Klageparteien ihre Rechte in separaten Verfahren geltend machen müssen. Gewerkschaften fordern schon länger die Einführung einer auf Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern anwendbaren Verbandsklage.
- Unabdingbar ist die Ausschöpfung des Potenzials der Digitalisierung bis hin zum Einsatz künstlicher Intelligenz. Die Arbeitsgemeinschaft Massenverfahren des Deutschen Richterbunds schlägt vor, dass sich der Deutsche Richterbund für entsprechende Modellprojekte mit Justizpraktikern einsetzt. Einige sind bereits erfolgreich gestartet. So lässt beispielsweise das Amtsgericht Frankfurt am Main in einem Pilotprojekt in Verfahren zu Fluggastrechten eine Software nach Datenauswertung (Bordkarten, Flugzeiten, Wetter etc.) Urteilsvorschläge erstellen. Am OLG Stuttgart werden im Rahmen der dort anhängigen Dieselklagen mittels einer Software Berufungsschriftsätze und erstinstanzliche Urteile unter anderem danach kategorisiert, welches Fahrzeugmodell, welcher Motortyp und welche Abgasnorm betroffen sind und ob ein Rückruf des betreffenden Fahrzeugs durch den Hersteller stattgefunden hat. Gleich gelagerte Fälle können so gemeinsam effizienter bearbeitet werden.
Fazit
Die Initiativen der Justiz belegen, dass auch zukünftig vermehrt mit Massenverfahren in allen Bereichen zu rechnen ist. Man darf hier auf die Entwicklungen in den nächsten Jahren gespannt sein. Entscheidend für alle Akteure ist es, sich rechtlich und technologisch gut aufzustellen.
Kontaktpersonen: Nathalie Jäger, Sophia Haus