Moderner Konferenzraum

Sozialauswahl (auch) bei schrittweiser Betriebsstilllegung

Wird im Ergebnis der ganze Betrieb stillgelegt, erfolgt die Stilllegung aber aufgrund von Restabwicklungsarbeiten im Betrieb nur Schritt für Schritt, ist der Arbeitgeber dennoch nicht davon befreit, eine ordnungsgemäße Sozialauswahl durchzuführen. Vielmehr hat der Arbeitgeber grundsätzlich die sozial schutzwürdigsten Arbeitnehmer mit der Abwicklung des Betriebs zu beschäftigen. So hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf mit Urteil vom 09.01.2024 (Az.: 3 Sa 529/23) entschieden.

Sachverhalt

Die Beklagte, ein Unternehmen für die Herstellung und den Vertrieb von Aluminiumgussteilen, beschäftigte in ihrem einzigen Betrieb ca. 600 Arbeitnehmer. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgte die Einstellung der Geschäftstätigkeit zum 31.12.2022. Mit Spruch der Einigungsstelle vom 24.11.2022 wurden die Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs für gescheitert erklärt. Unter Einräumung der Gelegenheit, in eine Transfergesellschaft zu wechseln, sprach die Beklagte gegenüber sämtlichen Arbeitnehmern betriebsbedingte Beendigungskündigungen aus. Ein Team bestehend aus 53 Arbeitnehmern wurde zur Abwicklung des Unternehmens weiterbeschäftigt; die übrigen Arbeitnehmer – darunter der Kläger – wurden bereits ab dem 01.01.2023 unwiderruflich freigestellt. Das Abwicklungsteam wurde sukzessive zunächst um 13 Arbeitnehmer zum 31.03.2023 und schließlich um die restlichen 40 Arbeitnehmer zum 30.06.2023 abgebaut. Gegen seine Kündigung vom 16.12.2022 zum 31.03.2023 erhob der Kläger Kündigungsschutzklage und berief sich darauf, dass insbesondere die Sozialauswahl und die Massenentlassungsanzeige fehlerhaft gewesen seien.

Entscheidung

Das Arbeitsgericht (ArbG) Solingen gab der Kündigungsschutzklage in erster Instanz statt (ArbG Solingen, Urteil vom 13.04.2023 – Az.: 3 Ca 126/23). Auf die Berufung der Beklagten bestätigte das LAG Düsseldorf die Entscheidung des ArbG und wies die Berufung als unbegründet zurück. Die Begründetheit der Kündigungsschutzklage folgte für das LAG nicht aus § 17 KSchG i. V. m. § 134 BGB wegen einer nicht ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige. Etwaige Fehler in diesem Zusammenhang stellten keinen Unwirksamkeitsgrund dar, weil der Zweck der Anzeige nicht der Individualschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sei. Die Kündigung sei jedoch mangels ordnungsgemäßer Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG) unwirksam. Zur Begründung seiner Entscheidung verwies das LAG darauf, dass ein Arbeitgeber bei der Entscheidung über die Reihenfolge der zu kündigenden Arbeitnehmer nicht frei sei. Vielmehr habe er dabei die Grundsätze der Sozialauswahl zu beachten. Restabwicklungsarbeiten seien grundsätzlich durch die sozial schutzwürdigsten Arbeitnehmer durchzuführen. Im Rahmen der Sozialauswahl seien die Vergleichsgruppen nicht entsprechend der ursprünglichen Tätigkeit zu bilden, sondern vielmehr anhand der anfallenden Tätigkeiten im Rahmen der Abwicklung des Betriebs. Es habe der Beklagten oblegen, die Vermutung der fehlerhaften Sozialauswahl zu widerlegen, insbesondere im Hinblick auf die Aufgaben, Dauer und Anforderungen der Restabwicklungsarbeiten. Dies sei ihr auch in der zweiten Instanz nicht gelungen.

Praxishinweis

Eine unternehmerische Entscheidung, die zum Wegfall von Beschäftigungsbedarf führt, unterliegt nur einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfbarkeit. Auch eine Sozialauswahl wird nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft, insbesondere kommt einem Arbeitgeber bei der Gewichtung der einzelnen Faktoren ein großer Gestaltungsspielraum zu. Das BAG stellt jedoch hohe Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers. Gerade dies verdeutlicht die Entscheidung des LAG im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Vergleichsgruppenbildung im Rahmen von Restabwicklungsarbeiten: Hier ist entsprechend der anfallenden Tätigkeit genau zu differenzieren und zu dokumentieren, um im Streitfall dezidiert vortragen zu können.

Erwähnenswert ist zudem, dass – soweit der Kläger sich in dem Verfahren auch auf eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige berief – das LAG sich hier erstmals ausdrücklich der Rechtsprechung des 6. Senats des BAG zur fehlerhaften Massenentlassungsanzeige anschloss. Das LAG ließ die Kündigung – unter Verweis auf den fehlenden Individualschutz der Anzeige – nicht hieran scheitern. Insofern gilt es dringend, die Rechtsprechung des BAG weiter im Blick zu halten: Der 6. Senat beabsichtigt unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung; zusammengefasst soll ein Fehler im Anzeigeverfahren nach §§ 17 ff. KSchG nicht mehr zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Eine Entscheidung über die Divergenzanfrage des 6. Senats (BAG, Vorlagebeschluss vom 14.12.2023 – Az.: 6 AZR 157/22 (B)) steht noch aus; hierzu hat der 2. Senat zunächst den EuGH angefragt (BAG, Vorlagebeschluss vom 01.02.2024 – Az.: 2 AS 22/23 (A)). 

Kontaktpersonen: Sophia Haus; Max Freimüller