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Mehr Macht fürs Kartellamt

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Die GWB-Novelle erlaubt es der Bundesbehörde, unter bestimmten Bedingungen Maßnahmen gegen Unternehmen zu ergreifen, selbst wenn diese sich rechtmäßig verhalten haben.


Überblick

  • Der Bundestag hat am 6. Juli 2023 die 11. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) verabschiedet. Die 11. GWB-Novelle gilt als eine der wichtigsten Reformen des Wettbewerbsrechts der letzten Jahrzehnte.
  • Erstens wird im Fall von Kartellrechtsverstößen die Abschöpfung der daraus entstandenen Vorteile für das Bundeskartellamt deutlich erleichtert.
  • Zweitens schafft die 11. GWB-Novelle die rechtlichen Grundlagen dafür, dass das Bundeskartellamt die Europäische Kommission bei der Durchsetzung des Digital Markets Act (DMA) unterstützen kann. Zudem wird die private Durchsetzung des DMA erleichtert.
  • Drittens und als wichtigste Änderung ist ein neues Eingriffsinstrument vorgesehen, mit dem das Bundeskartellamt im Anschluss an eine Sektoruntersuchung festgestellte Störungen des Wettbewerbs abstellen kann. Bisher endeten Sektoruntersuchungen mit einem Bericht des Bundeskartellamts; künftig kann die Behörde auch gravierende Maßnahmen anordnen, um festgestellte Störungen des Marktes zu beheben.

Für das Bundeswirtschaftsministerium ist die 11. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) „die größte Reform des Wettbewerbsrechts der letzten Jahrzehnte“ – neben dem GWB-Digitalisierungsgesetz. Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause stimmte der Bundestag mehrheitlich der Novelle zu. Der Bundesrat will gegen den Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes keine Einwendungen erheben. Für Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Habeck ist die 11. GWB-Novelle ein Meilenstein, die den Wettbewerb „vor allem auf vermachteten Märkten mit nur wenigen Anbietern“ beleben werde. Das sei gerade in Zeiten hoher Inflation wichtig.

Umstrittene Vermutungen bei der Vorteilsabschöpfung

Im Fall von Kartellrechtsverstößen wird die Abschöpfung der daraus entstandenen Vorteile für das Kartellamt deutlich erleichtert. Das bereits bestehende Instrument der Vorteilsabschöpfung wurde vom Bundeskartellamt bisher nicht genutzt. Die Behörde begründete dies mit den umfangreichen Voraussetzungen. Die Eingriffsmöglichkeiten sollen durch die Einfügung zweier Vermutungen im GWB erleichtert werden. Erstens: Ein Verstoß gegen die zentralen Normen des deutschen Kartellrechts oder der EU verursacht einen wirtschaftlichen Vorteil (§ 34 Abs. 4 Satz 1 GWB). Zweitens: Dieser wirtschaftliche Vorteil beträgt mindestens ein Prozent der Umsätze, die im Inland mit den Produkten oder Dienstleistungen erzielt wurden, die mit der Zuwiderhandlung im Zusammenhang stehen (§ 34 Abs. 4 Satz 3 GWB). Aus Sicht betroffener Unternehmen äußerten Wissenschaftler und andere Experten dabei in Anhörungen Zweifel, ob sich solche Vermutungen in der Praxis überhaupt widerlegen lassen.

Durchsetzung des DMA

Im Anwendungsbereich des DMA wird das Bundeskartellamt ermächtigt, die Kommission durch Untersuchungen von möglichen Verstößen gegen Art. 5, 6 oder 7 DMA bei dessen Durchsetzung zu unterstützen (§ 32g GWB). Darüber hinaus soll die zivilrechtliche Durchsetzung des DMA in das System des Zivilrechtsschutzes bei Kartellrechtsverstößen integriert werden (§§ 33 ff.).

„Störung des Wettbewerbs“ als neuer Begriff im GWB

Als politisches Kernstück der 11. GWB-Novelle ist ein neues Eingriffsinstrument vorgesehen, mit dem das Bundeskartellamt im Anschluss an eine Sektoruntersuchung festgestellte Störungen des Wettbewerbs abstellen kann. Bisher endeten Sektoruntersuchungen mit einem Bericht des Bundeskartellamts; künftig kann die Behörde verschiedene Maßnahmen anordnen, um festgestellte Störungen des Marktes zu beheben. Unabhängig von einem Wettbewerbsverstoß erhält das Bundeskartellamt damit die Befugnis, in einem ersten Verfahrensabschnitt eine erhebliche und fortwährende Störung des Wettbewerbs festzustellen. Der Begriff „Störung des Wettbewerbs“ wird allerdings vom Gesetzgeber nicht definiert. Das Gesetz enthält in § 32f Abs. 5 Satz 1 eine nicht abschließende Liste von vier Regelbeispielen:

  1. Eine unilaterale Angebots- oder Nachfragemacht
  2. Beschränkungen des Marktzutritts oder -austritts oder der Kapazitäten oder des Wechsels zu einem anderen Anbieter oder Nachfrager
  3. Gleichförmiges oder koordiniertes Verhalten
  4. Abschottung von Einsatzfaktoren oder Kunden durch vertikale Beziehungen

In der Gesetzesbegründung wird explizit darauf hingewiesen, dass angesichts der Vielfalt denkbarer Konstellationen eine abschließende Definition nicht möglich sei.

 

Abhilfemaßnahmen ...

In einem zweiten Verfahrensabschnitt wird das Bundeskartellamt ermächtigt, den von der Verfügung nach § 32f Abs. 3 Satz 1 erfassten Unternehmen „alle Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art vorzuschreiben, die zur Beseitigung oder Verringerung der Störung des Wettbewerbs erforderlich sind“. Diese Maßnahmen können für diese Unternehmen weitreichende verhaltensorientierte oder quasistrukturelle Verpflichtungen umfassen. Das Gesetz nennt als mögliche Abhilfemaßnahmen insbesondere:

  • Gewährung des Zugangs zu Daten, Schnittstellen, Netzen oder sonstigen Einrichtungen 
  • Vorgaben zu Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen auf den untersuchten Märkten und auf verschiedenen Marktstufen
  • Verpflichtung zur Etablierung transparenter, diskriminierungsfreier, offener Normen und Standards durch Unternehmen
  • Vorgaben zu bestimmten Vertragsformen oder Vertragsgestaltungen (einschließlich vertraglicher Pflichten zur Informationsoffenlegung)
  • Verbot der einseitigen Offenlegung von Informationen, die ein Parallelverhalten von Unternehmen begünstigen
  • organisatorische Trennung von Unternehmens- oder Geschäftsbereichen

Dieser Maßnahmenkatalog ist auch deshalb erstaunlich, weil das Bundeskartellamt in der Fusionskontrolle verhaltensbedingte Zusagen der Unternehmen rigoros ablehnt und stets nur strukturbezogene (Veräußerungs-) Zusagen akzeptiert.

 

… bis zur Entflechtung

Das Bundeskartellamt soll nach einer Sektoruntersuchung Unternehmen verpflichten können, praktisch alle relevanten Zusammenschlüsse auf bestimmten Märkten zur Fusionskontrolle anzumelden. Und als Ultima Ratio kann das Bundeskartellamt sogar eine missbrauchsunabhängige Entflechtung von Unternehmen anordnen, die entweder marktbeherrschend sind oder für die bereits eine überragende marktübergreifende Bedeutung nach § 19a GWB festgestellt wurde.

 

Rechtliche Zweifel

Am 14. Juni 2023 fand im Wirtschaftsausschuss des Bundestages eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen statt. Die geplanten Neuregelungen wurden äußerst konträr diskutiert. Nach Meinung von Rupprecht Podszun, Direktor des Instituts für Kartellrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gibt es in Deutschland Märkte mit einer „strukturellen Wettbewerbsarmut“, die sich über Jahre und Jahrzehnte verfestigt habe. Zudem sei die neue Regelung international kein Novum. Mit dem „Market Investigation Tool“ habe das Vereinigte Königreich seit 2002 ein sehr ähnliches Instrument, das etwa bei der Entflechtung von Flughäfen und im Zementbereich eingesetzt worden sei. Heike Schweitzer, Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht und Ökonomik an der Humboldt-Universität zu Berlin, erwiderte, es sei Sache des Gesetzgebers, Märkte zu regulieren, und dies nicht einer Beschlussabteilung des Bundeskartellamts zu überlassen.

 

Verfassungswidrig?

Kritisch äußerten sich auch Verbandsvertreter und Vertreter von Unternehmen. Der Handelsverband Deutschland (HDE) und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sehen in der 11. GWB-Novelle einen drastischen Systemwechsel in der Wettbewerbspolitik. Sie lehnen eine neue Rolle des Bundeskartellamts als „Super-Behörde“, die einen Markt neu ordnen und umstrukturieren kann, strikt ab. Zudem legte Martin Nettesheim von der Universität Tübingen im Auftrag des HDE ein Gutachten vor, in dem er zentrale Neuregelungen als verfassungswidrig einstuft. Das Gutachten kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass das Gesetzesvorhaben nicht darauf abziele, Lücken im bestehenden Kartellrecht zu schließen, sondern einen vollkommen neuen ordnungspolitischen Ansatz darstellt – und das, ohne dass akute Missstände oder Regelungsbedarfe erkennbar seien. Dem Gutachten nach bekäme das Bundeskartellamt Befugnisse, die einer Behörde in der rechtsstaatlichen Demokratie nicht zustünden.

Fazit

Angesichts der heftigen Kritik vonseiten einiger Verbände sowie von Unternehmen ist davon auszugehen, dass jede Maßnahme des Bundeskartellamts auf der Grundlage der neuen Befugnisse gerichtlich überprüft wird. Angesichts der erheblichen Konsequenzen, die nunmehr auf eine Sektoruntersuchung folgen können, sollten alle in Sektoruntersuchungen einbezogenen Unternehmen ihre Antworten und Auskünfte sehr gründlich prüfen und diese Verfahren noch gewissenhafter begleiten, als dies bislang möglicherweise der Fall war.

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